Vom 7. bis zum 9. September traf sich die europäische Agil-/Lean-Gemeinde in Berlin zur ersten (Un-)Konferenz namens ALE2011. Jurgen Appelo hatte im Mai 2011 das Netzwerk “Agile Lean Europe” ins Leben gerufen, um die Ideen von Agil und Lean in einem europäischen Kontext zu diskutieren und zu verbreiten. Der multinationale Ansatz und die damit verbundene kulturelle Vielfalt führte bereits bei der Gründung des Netzwerks zu vielen verschiedenen Ideen. Eine dieser Ideen war die Ausrichtung einer Konferenz für praktizierende Agile und solche, die sich für die Ideenwelt rund um Agil und Lean interessieren. Also machte sich eine Gruppe von Organisatoren aus verschiedenen europäischen Ländern an die Arbeit. Einige von ihnen sollten sich in Berlin zum ersten Mal live begegnen, denn der Großteil der Vorbereitung wurde online geplant und verteilt durchgeführt. Und alle fragten sich, ob es denn wirklich funktionieren würde.
Es hat funktioniert.
Von Sofas und Geburtstagsständchen
Vom ersten Moment an hatte ich den Eindruck, dass diese Konferenz professionell vorbereitet war – und doch etwas anders ablief als andere Treffen dieser Art. Da waren die Gruppen von Aktiven, die sich um die verschiedenen Aspekte der Konferenz (z.B. Website, Finanzen, Planung, Kinder-und-Partner-Programm) kümmerten. Andere Konferenzen benennen für diese Aufgaben einen “Chair”, hier gab es Sofas, damit mehrere Personen darauf Platz fanden. Ein Kinder-und-Partner-Programm hatte ich auch noch nicht erlebt (vielleicht war ich bisher auf den falschen Konferenzen). Da unsere Kinder schulpflichtig sind, musste ich mich auf die Aussagen anderer Konferenzteilnehmer verlassen – und die waren begeistert. Höhepunkt war ein Geburtstagsständchen der Kinder mitten in einem Vortrag. Alle (den Sprecher eingeschlossen) hat’s gefreut.
Die Vorträge fanden in drei parallelen Tracks statt, die in benachbarten Räumen des NH-Hotels Berlin Mitte untergebracht waren. Das verkürzte die Laufwege und hielt den Zeitplan lange intakt. Die Zwischenwände ließen sich entfernen, sodass für die an den Nachmittagen stattfindenden Lightning Talks und Open Spaces ausreichend Platz für alle Teilnehmer zur Verfügung stand. Für die Pausen und die Open Spaces konnte zudem die Lobby genutzt werden. Hier konnte man angenehmer miteinander reden als vor den Vortragsräumen, die im Erdgeschoss gegenüber der Hotelrezeption lagen, weshalb man ab und zu über die Koffer der Neuankömmlinge stolperte. Dafür war die Lage des Hotels erstklassig: zu Fuß war man in einer Viertelstunde am Brandenburger Tor.
Zielgruppen und Gruppenziele
Die Vorträge boten die volle Bandbreite – sowohl hinsichtlich der Themen als auch der Güte. Als angenehm empfand ich es, dass sich alle Vortragenden auf die Sache konzentrierten, anstatt diese Plattform für Werbung in eigener Sache zu nutzen. Interessant waren die Erfahrungsberichte, beispielsweise von Henri Kivioja (Ericsson Finland), dessen Unternehmen einen inneren Wandel hin zur agilen Organisation vollzieht. Überhaupt war die Idee der agilen Organisation ein dominantes Thema auf dieser Konferenz. Kritiker merkten aber immer wieder (meiner Meinung nach zu Recht) an, dass man Agil und Lean zunächst einmal verstanden haben muss, bevor man sein ganzes Unternehmen darauf ausrichtet. Andere wiederum wiesen darauf hin, dass man bei all der Business-Fokussierung die Entwickler nicht vergessen darf – schließlich sind sie es, die all die geschäftlich wertvollen Ideen in guten Code gießen. Die Vielzahl an Perspektiven und Meinungen machte den besonderen Reiz der ALE2011 aus – wenngleich mich manchmal das Gefühl beschlich, vieles diskutiert, aber nichts richtig zu Ende besprochen zu haben. Bevor dieses Gefühl einen unangenehmen Beigeschmack entwickeln konnte, wurde ich wieder an das Konferenzmotto erinnert: “Because we share” – wir sind ein Netzwerk, das sich austauscht, und keine Konsumkonferenz. Na ja, zumindest wollen wir ein großes Netzwerk werden, das weit über den “harten Kern” hinaus existiert. Der Wille war überall zu spüren, aber am letzten Konferenztag gab es dann doch ein paar Tweets, die wehmütig den Mangel an Zeit beklagten und das Tagesgeschäft bedauerten, das dem Netzwerk sofort ein wenig Wind aus den Segeln zu nehmen schien.
Die Keynotes: wahre Schlüsselerlebnisse
Die bemerkenswerte Themenvielfalt spiegelte sich auch in den Keynotes wider. Rachel Davies’ Vortrag habe ich leider verpasst. Dafür bekam ich am Donnerstagmorgen einen Einblick in die Welt jenseits der klassischen Finanzplanung. Bjarte Bogsnes stellte den“Beyond Budgeting”-Ansatz vor – ein Management-Modell, das die Nachteile der klassischen tayloristischen Lehre mit ihren “Command and Control”-Mustern und der Fokussierung auf die Finanzen zu überwinden sucht, indem es unternehmerische Ziele und eine marktorientierte Sicht in das Zentrum des wirtschaftlichen Handelns stellt. Zwölf Prinzipien bilden die Basis des Beyond-Budgeting-Ansatzes. Die Führungsprinzipien (Werte, Verantwortung, Selbständigkeit, Organisation, Kunden und Transparenz) waren den agil Praktizierenden bestens bekannt. Zu den Performance-Management-Prinzipien gehört die Definition relativer Ziele, die sich an den Mitbewerbern orientieren, die Belohnung des Teams anstelle individueller Prämien und eine kontinuierliche Planung anstelle des alljährlichen Stocherns im Nebel, gemeinhin “Jahresbudgetplanung” genannt. Das Beste an diesem Modell: es ist kein theoretisches Konstrukt, sondern wird von immer mehr Unternehmen erfolgreich angewendet. Nach diesem Vortrag hatte man das Gefühl, dass jeder sofort die Finanzplanung seines Arbeitgebers auf den Kopf stellen wollte.
Nobody’s Perfct
Am Nachmittag reichte ich gemeinsam mit Tim Yevgrashyn, Sebastian Eichner und Björn Jensen eine Open-Space-Session ein, in der wir das auf der Play4Agile entwickelte Spiel “Nobody’s Perfct” vorstellten und natürlich spielten. Die vielen Ideen der Mitspieler haben das Spielkonzept enorm bereichert. Nun arbeiten wir an einer ersten Version, die wir für die Öffentlichkeit freigeben wollen.
Um der abendlichen Grüppchenbildung von Leuten, die sich ohnehin schon kennen, entgegen zu wirken, bot das Organisationsteam am Donnerstagabend einen Programmpunkt namens “Dinner with strangers” an. An zwei Stellwänden waren viele Restaurants in der näheren und weiteren Umgebung des Hotels aufgeführt, inklusive Wegbeschreibung, Preislage und Anzahl reservierter Plätze. So Multi-Kulti wie Berlin, so bunt war auch das Speisenangebot. Ich entschied mich für einen Thai (“Goodtime” am Hausvogteiplatz) und wurde mit tollen Gerichten und Gesprächen belohnt.
Mein persönliches Highlight des letzten Konferenztags war die abschließende Keynote von David Snowden. Der Gründer von Cognitive Edge ist einer der großen Vordenker aller Wissensarbeiter. Er beschäftigt sich mit dem Wissensmanagement in Organisationen, die er als komplexe adaptive Systeme versteht. Und er ist ein begnadeter Erzähler, der ein Publikum in seinen Bann ziehen kann. Selten habe ich einen Vortrag gehört, der inhaltlich so dicht gepackt und zugleich so lebendig erzählt wurde, gespickt mit persönlichen Anekdoten. Ulf Brandes hat seine Notizen aus dem Vortrag online zur Verfügung gestellt. Ein mächtiger Extrakt aus 60 Minuten Snowden.
Buzzwords mit Bedeutung
Keine Konferenz ohne Buzzwords. Auch die ALE2011 bildete in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Die drei Termini, die ich an den drei Tagen am häufigsten gehört habe, sind:
- Double Loop Learning: Ein Modell des Psychologen Chris Argyris und des Philosophen Donald Schön, das eine Form (organisationalen) Lernens beschreibt, bei dem die zugrunde liegenden Normen, Regeln und Ziele infrage gestellt werden, anstatt diese als gegeben anzunehmen und nur die Handlungsstrategien zu variieren.
- Theory X / Theory Y: In den 1960er Jahren von Douglas McGregor (MIT Sloan School of Management) entwickelt, unterscheiden sich diese Managementtheorien hinsichtlich des Menschenbildes und dem daraus abgeleiteten Führungsverhalten. Theorie X geht davon aus, dass der Mensch ein von Natur aus faules, extrinsisch motiviertes Wesen ist und deshalb gelenkt und für Fehlverhalten bestraft werden muss (autoritärer Stil). Die agilen Vorgehensmodelle gehen hingegen von der Theorie Y aus, die den Menschen einen inneren Antrieb und persönliches Engagement bescheinigt. Das Management muss in dieser Theorie vor allem für ein motivierendes Arbeitsumfeld sorgen (partizipativer Stil). Wenn die Welt doch nur so einfach wäre…
- Metriken: Manager lieben Metriken – suggerieren sie doch eine objektive Sicht auf die Geschäftsprozesse. Immer mehr agile Projekte sehen sich gezwungen, ihre Erfolge mit Zahlen zu belegen. Gar nicht so einfach, wenn ein Vorgehensmodell nicht nur auf harten Fakten beruht (Lines of Code, Fehlerrate, Testabdeckung), sondern viele weiche Faktoren (Entscheidungsfähigkeit, Interdisziplinarität, Zufriedenheit) in den Erfolg einzahlen. Wie soll man die nur messen, und was ist der Referenzwert? Gaetano Mazzanti stellte eine schöne Metrik vor: “How long since” (… you talked to a customer … last useful retrospective … you learned something at work … your boss last freaked out … last critical bug).
Retrospektive 1
Die Retrospektive der ALE2011 wurde von Ken Power mit einem Regentanz eingeleitet, der alle Konferenzteilnehmer in Bewegung brachte. Dermaßen aktiviert, flossen bei den anschließenden Starfish- und Speedboat-Retrospektiven in acht Gruppen die Gedanken und Ideen. Es ging nicht nur um die Konferenz selbst, sondern auch um die Zukunft des europäischen Agile/Lean-Netzwerks. Jede Gruppe hatte dann 30 Sekunden Zeit, um ihre Ergebnisse zu präsentieren. Anschließend wurde ein Zeitstrahl 12 Monate in die Zukunft projiziert, auf dem jeder die Meilensteine für die Weiterentwicklung des Netzwerks platzieren konnte. Die Aufbereitung und Nachverfolgung steht noch aus.
Retrospektive 2 (aka Fazit)
Mein persönliches Fazit: die ALE2011 war eine inspirierende Veranstaltung, die gezeigt hat, dass es so etwas wie einen gemeinsamen europäischen Geist gibt. Im nächsten Jahr wäre ich gerne wieder dabei. Mein Wunsch für die ALE2012: Wieder so tolle Keynotes. Mehr Zeit für Lightning Talks, gegebenenfalls zu Lasten der regulären Vorträge. Die in den Lightning Talks in Gang gesetzten Denkprozesse lassen sich direkt in den Open Spaces in Diskussionen umwandeln. Und dann passiert ganz automatisch genau das, was man gemeinhin als “Netzwerken” bezeichnet.