In seiner Keynote auf der ALE2011-Konferenz beklagte David Snowden einen Trend, der seiner Meinung nach auch in der IT-Welt zu beobachten ist. Diesen Trend beschreibt er metaphorisch mit den Worten “We [the IT professionals] focus on recipes, not chefs”. Ein Rezept allein ist noch lange kein Garant für ein gutes Essen – von einem außergewöhnlichen Essen ganz zu schweigen. Das gibt’s nur vom Koch. Nicht etwa, weil der die Rezepte auswendig kennt, sondern weil er über jahrelange Erfahrung verfügt und schon Vieles ausprobiert hat. Ein Chefkoch braucht keine Musterküche, wie sie auf den Fotos der Hochglanzkochbücher zu sehen sind. Er braucht auch nicht exakt die Zutaten, die im Rezept (der “Spezifikation”) genannt sind. Dank seines Erfahrungsschatzes kann er Zutaten substituieren, ergänzen oder weglassen. Das Gericht schmeckt dann vielleicht anders, aber vermutlich ebenso gut (oder besser).
Die Kochbücher der IT-Welt
Auch in der IT-Welt kennen wir diese Rezepte. Sie heißen beispielsweise ITIL, PMBoK oder V-Modell und beschreiben ein standardisiertes Vorgehen für das Servicemanagement (ITIL), Projektmanagement (PMBoK, V-Modell) oder andere IT-Prozesse. Insbesondere in großen Unternehmen und der öffentlichen Hand spielen solche Modelle eine wichtige Rolle. Sie werden beispielsweise bei Ausschreibungen referenziert. Anbietende Dienstleister wissen dann, welche Standards gefordert sind, und können sich im Vorfeld darauf vorbereiten, indem sie beispielsweise ihre Mitarbeiter entsprechend schulen und zertifizieren lassen.
Warum scheitern trotzdem so viele IT-Projekte? Und warum haben viele Unternehmen trotz ITIL Probleme mit dem Betrieb ihrer Applikationen?
Aus meiner Sicht werden beim Verfolgen des “Rezept-Ansatzes” zwei wesentliche Aspekte vergessen:
- Es genügt nicht, die Rezepte auswendig zu lernen (genau das tun die Unternehmen, wenn sie ihre Mitarbeiter schulen und zertifizieren lassen). Man muss zunächst Erfahrungen sammeln, bevor man in der entsprechenden Domäne tätig wird. Eigentlich nichts Neues – und trotzdem wird dieses uralte Grundkonzept des Lernens in der IT-Welt nur selten beherzigt.
- Die Existenz der Rezeptsammlungen allein reicht nicht aus. Die Rezepte (oft auch “Best Practices” genannt) müssen immer an die aktuellen Gegebenheiten des Unternehmens- und Projektumfelds angepasst werden.
Softwareentwickler auf der Walz
Der IT-Welt fehlt laut Snowden ein Berufsausbildungsmodell (apprenticeship model). In den Lehrberufen bekommen die Auszubildenden eine solide Grundausbildung und sammeln dann als Geselle ihre Berufserfahrung, indem sie zunächst versuche, die Arbeitsweisen ihres Meisters zu imitieren. Das gelingt ihnen nie vollständig, und immer werden auch eigene Ideen und Erfahrungen in die Arbeitsweisen einfließen. Außerdem tauschen sich Gesellen mit anderen Gesellen aus, die sich wiederum eine eigene unvollständige Variante der Arbeitsweisen ihres Meisters angeeignet haben. Auf diese Weise wird das handwerkliche Wissen weitergegeben und vor allem weiterentwickelt. Es handelt sich beim Wissensschatz (body of knowledge) einer Zunft nicht um ein statisches Modell des Denkens und Handelns, sondern um ein dynamisches, evolutionäres und kollektives Wissen, das sich niemals umfassend in einer Schulung vermitteln lässt. Beispiel gefällig?
Sportbootführerschein: Auswendig lernen oder ausbilden lassen?
Da ich keinen Handwerksberuf erlernt habe, greife ich auf eine andere Erfahrung zurück, die ich kürzlich machen durfte. Ich bin Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr Wedel. Als Elbanrainer haben wir zwei Mehrzweckboote in unserem Fuhrpark. Um den Nachwuchs an Bootsführern sicherzustellen, haben Ende April eine Kameradin und neun Kameraden mit der Ausbildung für die Sportbootführerscheine “See” und “Binnen (Motor)” begonnen. Einer dieser Azubis war ich. Am 8. Oktober fand die letzte Prüfung statt. Nun sind wir alle im Besitz der beiden Führerscheine. Sucht man im Internet nach Sportbootführerscheinkursen, so wird man verschiedene Kursarten finden. Üblich sind Wochenkurse, entweder inklusive Praxis oder als Theorie-Abendkurs. Daneben findet man auch Wochenend-Intensivkurse. Warum haben wir fünf Monate (allerdings für beide Führerscheine) gebraucht? Zum einen, weil wir uns unregelmäßig getroffen haben und in den Sommerferien eine Pause eingelegt haben. Vor allem aber, weil wir die Ausbildung sehr ernst genommen haben. Unser Ausbilder ist ebenfalls Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr Wedel, hauptberuflich Feuerwehrmann in Hamburg – und Skipper mit Leib, Seele und Erfahrung. Mit vielen Anekdoten und praktischen Hinweisen, die in keinem Lehrbuch zu finden sind, vermittelte er uns den umfangreichen Stoff auf verständliche und nachvollziehbare Weise. Wichtig war ihm immer, dass wir ein Verständnis für die verschiedenen Regeln der Schifffahrtsstraßenordnungen entwickeln. Was die Regel besagt, kann jeder aus dem Lehrbuch entnehmen. Warum es diese Regeln gibt, und was man tun kann, um eine Gefahrensituation zu vermeiden, steht nicht immer im Buch. Und genau hier setzte unsere Ausbildung an. Wir bekamen sozusagen das vermittelt, was zwischen den Zeilen des Lehrbuchs steht.
Neben der theoretischen Ausbildung (der Fragenkatalog beider Führerscheine umfasst zusammen mehr als 700 Fragen) wurden wir intensiv im sicheren Umgang mit dem Boot geschult. Die Führerscheinprüfung umfasst auch einen praktischen Teil, in dem unter anderem das An- und Ablegen, das Fahren nach Kompass, das Mensch-über-Bord-Manöver sowie Knotenkunde geprüft werden. Bei der praktischen Ausbildung wurde unser Ausbilder von weiteren Bootsführern der Wedeler Wehr unterstützt. Sie opferten so manchen Abend, um mit uns die wichtigsten Manöver zu üben. Außerdem galt es, die Funktionsweise und Bedienung des Bootes und dessen technischer Ausrüstung zu erlernen. Schließlich müssen wir diese Wasserfahrzeuge im Einsatzfall zu jeder Tages- und Nachtzeit zügig und sicher bedienen können.
Theorie und Praxis
Viel Wert legte unser Ausbilder auf die Übertragung des theoretisch Erlernten in die Praxis. Dafür ist die Elbe vor Wedel wie kaum ein anderes Gewässer geeignet, denn selten findet man eine solche Vielzahl an Seezeichen, Schleusen und Leuchtfeuern auf so engem Raum versammelt. Bei einer Nachtfahrt konnten wir die Lichterführung der verschiedenen Fahrzeugarten beobachten. Sobald einer von uns ein neues Fahrzeug oder eine Fahrwassertonne erblickte, wurde das Wissen abgespult: handelt es sich um ein Fahrzeug mit gefährlichen Gütern? Welche Kennung hat die Leuchttonne? An diesem Abend wurde das Lehrbuch erlebbar, und das gab uns einen gehörigen Schub.
Natürlich waren wir alle bei den Prüfungen nervös, aber zugleich recht zuversichtlich. Die Tatsache, dass alle zehn Brandschützer alle Prüfungen auf Anhieb bestanden, spricht für sich – und für die Qualität unserer Ausbildung. Als wir alle am 8. Oktober den zweiten Führerschein in den Händen hielten und uns mächtig freuten, gratulierte uns unser Ausbilder, um sofort hinterherzuschicken: “Jetzt habt ihr die Führerscheine, aber Bootsführer seid ihr noch lange nicht. Jetzt fängt die eigentliche Ausbildung an. Ihr müsst das zweite Boot kennen und sicher beherrschen lernen. Ihr müsst lernen, wie man bei widrigen Bedingungen navigiert und fährt, denn unsere Einsätze finden selten bei Sonnenschein und Windstille statt. Und ihr müsst die Grundprinzipien guter Seemannschaft weiter verfestigen.” Das dämpfte unsere Euphorie ein wenig, aber wir wussten, dass er Recht hat. Und so sammeln wir weiterhin unter Anleitung praktische Erfahrung mit unseren Booten. All das kann man innerhalb von einer Woche oder gar an einem Wochenende nicht lernen, aber das ist – leider – auch nicht der Anspruch dieser Kurse. Die Kurse vermitteln die Rezepte, wir aber haben das Glück, echtes Wissen in Theorie und Praxis vermittelt zu bekommen, anstatt nur Rezepte auswendig zu lernen. Dieses Wissen werden wir nutzen, verändern und erweitern. Und irgendwann werden wir vielleicht die übernächste Generation von Fahrschülern bei deren praktischer Ausbildung unterstützen.
Die Krux mit dem Turbo-Lernen
In der IT-Welt buchen wir im übertragenen Sinne viel zu oft den Wochenendkurs. Wir erfahren von einer coolen neuen Technologie oder einem neuen Vorgehensmodell, das die Softwareentwicklung angeblich revolutioniert. Wir lesen einen Artikel in einer Fachzeitschrift, vielleicht (wenn wir die Zeit finden) ein Fachbuch, und los geht’s. Zeit für eine fundierte Ausbildung gesteht uns ja auch kaum noch jemand zu. Alles muss immer schneller gehen. Und je aggressiver die neuen Technologien und Methoden vermarktet werden, je heilversprechender sie angepriesen werden, desto höher der Druck, sie schnell und Erfolg bringend einzusetzen. Der Ausweg aus diesem Dilemma? Zunächst einmal prüfen, ob die neue Sau, die da gerade durchs Dorf getrieben wird, besser ist als die alte, die im eigenen Stall steht und deren Eigenarten man kennt (ein schräges Bild, ich weiß). Kommt man dann zu dem Entschluss, dass man dieses Neue tatsächlich einsetzen möchte, dann fragt man einen Meister um Rat und Unterstützung und versucht, von diesem zu lernen – so, wie es im Handwerk seit Jahrhunderten üblich ist.
Im zweiten Teil dieses Artikels werde ich meine Behauptung begründen, warum die Existenz der Rezeptsammlungen allein nicht ausreicht, um die anstehenden Probleme zu lösen.
Ich danke meinem Feuerwehrkameraden Jan Kowalleck für die Fotos.