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Warum ich mein Scrum-Master-Zertifikat nicht weiter verlängert habe

Ende Mai war es soweit: Die Scrum Alliance erinnerte mich freundlich, aber bestimmt daran, dass mein Zertifikat „Certified Scrum Master“ (CSM) am 21. Juni 2019 abläuft. Wieder sind zwei Jahre ins Land gegangen – so lange ist ein CSM-Zertifikat gültig, dann muss es gegen eine Gebühr von 100 US-Dollar um weitere zwei Jahre verlängert werden. Bisher hatte ich die Verlängerungen immer bezahlt, ohne darüber nachzudenken. Jetzt fragte ich mich: „Wozu?“

Elf Jahre ist es her, seit ich in Hamburg zum Certified Scrum Master ernannt wurde. Damals reichte schon die Teilnahme an einem Zertifizierungskurs aus, um diesen Titel tragen zu dürfen. Schnell stellte ich fest, dass ich mit dem Kurs zwar einen Überblick über die Rollen, Meetings und Artefakte gewonnen und erste agile Werkzeuge kennengelernt hatte, aber noch lange nicht souverän und wirksam in einem Scrum-Projekt arbeiten konnte. Diesen ernüchternden Hinweis gebe ich heute den Teilnehmer*innen meiner Scrum-Trainings mit auf den Weg. Die mangelnde Erfahrung interessierte übrigens schon damals niemanden: Alle waren froh, wenn sie überhaupt einmal einen „echten“ Scrum Master zu Gesicht bekamen. Scrum hatte mit seinem Siegeszug durch die IT-Branche begonnen, und damals wie heute gab es zu wenige Menschen, die sich für diese Rolle interessierten – ob sie dafür geeignet sind, steht auf einem ganz anderen Blatt. Mittlerweile muss man einen Online-Test bestehen und für die Verlängerung des Zertifikats nachweisen, dass man sich in der Zwischenzeit aktiv mit Scrum beschäftigt hat. Das ist eine Wissenschaft für sich, wie it-agile herausgefunden und schön beschrieben hat.

Eine typische Scrum-Biographie

Vermutlich unterschieden sich meine ersten Gehversuche in der Welt der Agilität nicht sonderlich von denen anderer agiler Novizen. In vielen meist kleineren Projekten lernte ich, welche Voraussetzungen für eine erfolgreiche Scrum-Einführung erfüllt sein sollten und welche Konsequenzen dieser Schritt oft hatte – für die Menschen, die Projekte und die Organisationen. Ich war Gründungsmitglied des ersten Hamburger Scrum-Stammtischs, besuchte immer mehr agile Konferenzen und erweiterte mein persönliches Netzwerk. Ich hielt Vorträge, schrieb Blog-Artikel und Bücher zu agilen Themen. Und ich begleitete weiterhin Projekte und Organisationen in ihrem Bestreben, agil(er) zu werden. wobei ich immer öfter die Frage stellte, wozu sie das eigentlich wollten. Oft bekam ich darauf keine klare Antwort. Und manchmal (aber sehr selten) verwarf ein Interessent die Idee wieder, nachdem ich ihm klargemacht hatte, dass Scrum keine Wunderwaffe ist, mit der alles schneller und besser gelingt.

Wenn ich andere mit der Frage „Wozu?“ konfrontierte, warum stellte ich mir dann nicht einmal selbst diese Frage: „Wozu bin ich Mitglied der Scrum Alliance und verlängere mein CSM-Zertifikat alle zwei Jahre?“

Deutschland, Land der Dichter, Denker – und Zertifikate

Der naheliegendste Grund: Der „Certified Scrum Master“ ist insbesondere für agile Berater, Trainer und Coaches ein Aushängeschild, der die Chancen auf den nächsten erfolgreichen Projektabschluss steigert. Gerade hierzulande schauen viele Unternehmen zuerst auf Zeugnisse und Zertifikate – und dann auf den Menschen. Das gefällt mir nicht, aber ich glaube nicht, dass ich daran etwas ändern kann. Indem ich den „Certified Scrum Master“ aus meiner Vita streiche, kann ich lediglich feststellen, ob mir das im Rennen um die Projekte Nachteile bringt. Ich bin gespannt …

Übersichtliches Angebot für Mitglieder

Weitere Gründe für die Mitgliedschaft liefert die Scrum Alliance auf ihrer Homepage. „Discounts to Regional and Global Scrum Gatherings“ werden dort angepriesen. Ich war bisher auf einem einzigen Scrum Gathering, und dessen Programm hat mich wenig begeistert. Andere agile (Un-)Konferenzen wie die Agile World, Agile by Nature CAMP, Tools4AgileTeams, Manage Agile und allen voran die XP Days bieten mir da deutlich mehr Impulse – vor allem deshalb, weil sie nicht auf Scrum fokussiert sind. Auch das Angebot der Scrum Alliance, einer User Group beizutreten, habe ich nie genutzt, weil ich mich auf den (Un-)Konferenzen und Meetups mit anderen Agilist*innen vernetzt habe. Dem Aufruf „Become a volunteer“ bin ich ebenfalls ohne Hilfe der Allianz nachgekommen, indem ich mich bei den XP Days als Fachbeirat engagiere. Für „Find or post a job with AgileCareers“, das letzte Angebot der Scrum Alliance, bin ich nicht die richtige Zielgruppe.

… oder doch zu scrum.org?

Wenn ich Mitglied der Scrum Alliance bliebe, dann könnte ich die Advanced- oder Professional-Zertifikate erwerben und damit meinen Marktwert eventuell steigern. Mindestens wirtschaftlich betrachtet wäre es sinnvoller, zur Konkurrenz scrum.org zu gehen, denn deren Zertifikate gelten ein Leben lang.

Und nun?

Es gibt ein Leben nach dem Zertifikat – das kann ich schon heute mit Sicherheit behaupten. Ob sich das nachteilig auf mein Geschäft auswirken wird, kann ich allerdings noch nicht beurteilen. Da ich den Begriff „Scrum“ nicht aus meinen Profilen gestrichen habe, sollten mich die Projektvermittler immer noch finden können. Nach einem Blick auf meinen Lebenslauf und die Bücherliste sind diese dann hoffentlich davon überzeugt, dass ich ein erfahrener Agilist bin – auch ohne Zertifikat.