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Agil Konferenz

XP Days Germany 2010: Tolle Tage in Hamburg

Nicht nur die Karnevalisten haben ihre drei tollen Tage, sondern auch die agile Community. Deren Karneval heißt „XP Days Germany“ und fand in diesem Jahr turnusmäßig in Hamburg statt. Die Veranstalter hatten die altehrwürdigen Räume der Handwerkskammer als Veranstaltungsort auserkoren – ein passender Rahmen, ging es doch unter dem Motto „All about Agile“ auch um die handwerklichen Aspekte der Softwareentwicklung. Die zwei Hauptkonferenztage wurden wie in den Vorjahren von einem Community Day flankiert, der auch in diesem Jahr wieder großen Anklang fand. Das Open-Space-Format hat sich bewährt. Aber auch die Hauptkonferenz verzichtete weitgehend auf Frontalbeschallung und gab interaktiven Formaten den Vorzug. So beleuchteten Simon Roberts und Jens Korte gemeinsam mit den Teilnehmern ihrer Session typische Szenen aus dem Leben eines Scrum-Teams. Dabei legten die beiden ihre Coaching-Finger in einige bekannte Wunden praktizierender Teams, um sogleich von den Teilnehmern lindernde Mittel entwickeln zu lassen oder aus der Prezi-Retorte anzubieten.

Parallel dazu sorgte Rolf Dräther mit seinen sieben (+1) Warm-Ups für die höchste Tweet-Dichte der XP Days, weil die Teilnehmer der Parallelveranstaltungen wissen wollten, wer da hüpft, klatscht und lacht. Die Session wirkte wie ein Energy Drink und entließ die Teilnehmer in den letzten Vortragsblock am Donnerstag. Dort packte Alexandra Teynor ihre Usability-Toolbox für agile Projekte aus. Nach einer kurzen Einführung in das Usability Engineering durfte ein Teilnehmer den Papier-Prototyp einer iPhone-App live testen. Alexandra übernahm die Rolle der App und zauberte immer neue Papierbildschirme auf das Flipchart – oder verkündete ganz ruhig, dass sich auf dem Bildschirm nichts verändert. Die lange Suche des Users nach dem „Suchen“-Knopf verdeutlichte die Bedeutung von Usability-Analysen und hinterließ bei dem zum Schweigen verdammten Publikum einen bleibenden Eindruck. Mit den aus dem Papier-Prototyp gewonnenen Erfahrungen war der per Videokamera auf die Leinwand projizierte Live-Test der echten App ein Selbstgänger. Anschließend ging’s in die Speicherstadt, wo in maritim-schicker Atmosphäre weiter diskutiert, viel gelacht und genetzwerkelt wurde.

Die Keynote von Rachel Davies am Freitagmorgen habe ich leider verpasst, um meinem Auto gerade noch rechtzeitig vor dem Bundesratsbeschluss Winterschuhe zu verpassen. So begann mein zweiter XP-Tag mit einem doppelten Lehrstück – zum einen in Sachen Software Craftsmanship, und zum anderen in Sachen Entertainment. Die Jungs von it-agile begannen ihre Session zu Code Katas mit einer echten Karate-Kata. Als Schwarzgurt Arne Roock den „Weg auf dem schmalen Grat zwischen zwei Reisfeldern“ betrat, war es mucksmäuschenstill im Raum. Umso lauter wirkte der tosende Applaus, mit dem die Zuschauer Arnes beeindruckend kraftvolle und flüssige Bewegungen honorierten. Und dann kam Marko Schulz mit einer ähnlich beeindruckenden Performance. Auch seine Bewegungen waren schnell und flüssig – allerdings auf der Tastatur. In seiner Code Kata rückte er den römischen Zahlen zu Leibe. Was dabei in seinem Kopf vorging, wurde von Arne Roock, Sebastian Sanitz und Bernd Schiffer mit viel Humor und den passenden T-Shirts in Szene gesetzt. Diese Session war mit Sicherheit ein Höhepunkt der Konferenz.

Deutlich ernster ging es im Vortrag von Jens Himmelreich zur Sache: Jens zeichnete ein Psychogramm des „agilen Ich“ und stellte fest, dass in der modernen Dienstleistungsgesellschaft das „Darf ich das?“ der steuernden Organisation zunehmend der Frage „Kann ich das?“ weicht. Das ist die wohl größte Herausforderung einer eigenverantwortlichen Lebensweise. Die Folgen: Es fehlen strukturelle Grenzen, Berufsnomaden verlieren ihre sozialen Räume, die beruflichen Probleme machen vor der Haustür nicht mehr Halt, man identifiziert sich mit Erfolg und Misserfolg seiner Projekte und wird immer mehr zum Politiker. Das Problem: Es gibt keine geeigneten Schutzmechanismen für diese neuen Krankheitsbilder der Dienstleistungsgesellschaft. Hier versagt der klassische Arbeitsschutz, der auf die Strukturen der Industriegesellschaft zugeschnitten ist. Das Thema wurde in einem Open Space weiter vertieft, an dem ich aber leider vorbeigeschwirrt bin.

Die Session mit Kurzvorträgen, zu denen ich meine Betrachtungen über die Feuerwehr als agiles Team beisteuern durfte, war ein starkes Sixpack. Markus Andrezak zeigte anhand der Geschichte einer kleinen italienischen Pasta-Manufaktur die Grenzen der Lean Production auf. Bernhard Findeiss entdeckte tolle Parallelen zwischen agilen Teams und Fussballmannschaften. Marc Bless überzeugte das Publikum mit viel Drive davon, dass es in agilen Teams auf den persönlichen Antrieb ankommt. Arne Roock lieferte den perfekten Off-Kommentar zu den 20 Stationen von Justins Reise zu Kanban. Für den lyrischen Abschluss sorgte Andreas Ebbert-Karroum mit einer Performance aus Haikus, Limericks und klassischen Gedichten, untermalt mit stimmungsvollen Bildern.

Zum Schluss gönnte ich mir noch eine Wildcard. Sven Röpstorff führte uns in Theorie und Praxis der Magic Estimation ein. Besonders gefallen hat mir der fiktive Anwendungsfall: Es galt, die schönste Vorweihnachtszeit aller Zeiten zu organisieren. So magisch der Anwendungsfall, so irdisch war dann aber die Schätzmethode – und das ist gut so, denn wer möchte schon seine Schätzung mit Magie begründen…

Nach einem lebendigen Open-Space-Markplatz am Community Day gab es fünf Runden lang die Qual der Wahl – ein Hoch auf das Gesetz der zwei Füße! Ein Trendthema war die agile Organisation, deren verschiedene Aspekte (Karrierepfade, Gehaltsmodelle, bottom-up-Agilisierung und agil im Backoffice) ausführlich diskutiert wurden. Aber auch die Alltagsprobleme aus „klassisch agilen Projekten“ bekamen ihren Raum. Den Begriff „klassisch agil“ habe ich übrigens mehrfach auf den XP Days gehört, und meistens wurde er ganz selbstverständlich verwendet – ein Zeichen dafür, dass agile Vorgehensweisen zumindest für die Community bereits ein moderner Klassiker sind. Sehr gut gefallen hat mir die von Jiří Lundák moderierte Session zum Agile Perfection Game, eine konstruktive und wertschätzende Art, im Team Ideen zu entwickeln und Probleme zu lösen. In nur drei Iterationen haben wir in drei Teams mit wechselnden „Solution Owners“ drei Lösungen für ein real existierendes Problem gefunden, das einer der Teilnehmer mitgebracht hatte.

Und meine Sessions? Gemeinsam mit meinem Kollegen Carsten Sahling durfte ich verschiedene agile Spiele vorstellen, moderieren und diskutieren. Es hat allen viel Spaß gemacht. Besondern beeindruckt war ich vom „human knot“ und dem Hula-Hoop-Spiel. Am Freitag habe ich mit tollen Mitstreitern in der Geschichtenschmiede gewerkelt. Ich erläuterte die Grundelemente des Storytelling, wir diskutierten die Rolle von Geschichten in Unternehmen, und schließlich analysierten wir eine konkrete, spontan erzählte Geschichte. Es war toll zu sehen, wie Schritt für Schritt klar wurde, aus welchem Stoff gute Geschichten sind. Nach dieser intensiven Session zog ich meine Feuerwehreinsatzjacke an und stürzte mich in den Pecha Kucha.

Auch in diesem Jahr haben die XP Days Germany ihren Ruf als beste deutsche Konferenz zur agilen Softwareentwicklung verteidigt, und ich freue mich schon auf die Neuauflage im nächsten Jahr.

War’s das? Nein.

Ein Bericht über die XP Days ist unvollständig ohne Dank an die Organisatoren vor und hinter den Kulissen. Ihr habt einen Raum geschaffen, der Kreativität und Kommunikation förderte. Bester Beweis sind die Ergebnisse des Open Space und die vielen Tweets. Mehr als einmal konnte ich lesen: „Schade, dass ich nicht dabei sein kann“. Danke, dass ich dabei sein durfte.