Nach zwei Vortragstagen (17./18.11.) und einem Community Day (19.11.) fuhr ich ein wenig ernüchtert von den XP Days 2011 aus Karlsruhe zurück nach Hamburg. Nicht, dass mir die Veranstaltung nicht gefallen hätte. Sie war auch in diesem Jahr wieder gut organisiert. Auch habe ich viele Freunde und Bekannte wiedergetroffen und neue interessante Menschen kennen gelernt. Es fehlte mir jedoch das „Aha!“-Erlebnis, die ungewöhnliche Idee, die neue Perspektive, der frische Wind. Alles irgendwie schon mal da gewesen, schon mal gehört oder gelesen, schon mal erlebt – zumindest an den beiden „klassischen“ Vortagstagen. Es fehlte das „Extreme“. Johannes Link stellte im Interview mit Matthias Lübken fest, dass die XP Days im Mainstream angekommen sind. Das ist nicht unbedingt schlecht, aber es fühlt sich einfach anders an als in den vergangenen Jahren.
Keynotes ohne Schlüsselerlebnis
Ich fand es schade, dass insbesondere die Keynotes keine Inspiration brachten. Gojko Adzic stellte fest, dass viele Unternehmen ihre Software nicht richtig testen. Entweder sind die falschen Leute für Themen wie das Schreiben von Akzeptanztests verantwortlich. Oder die verschiedenen Arten von Tests (Unit Tests, Akzeptanztests, Integrationstests, …) werden nicht systematisch verwendet. Oder die verwendeten Tools passen nicht zur Testklasse (Integrationstest mit FIT). Nicken im Saal. Und ich fragte mich, wie die Resonanz gewesen wäre, wenn Gojko Adzic diese Keynote auf dem Software-QS-Tag gehalten hätte. Die dort anwesenden Testmanager wissen, wie man auf der Testklaviatur spielt, ohne dass Misstöne erklingen.
Ken Schwaber begann seine Keynote mit dem Verweis auf einen CHAOS-Report, der den Erfolg von agilen Projekten mit dem von Wasserfallprojekten verglich. Es siegten – oh Wunder – die agilen Projekte. Die agile Community hatte sich in den vergangenen Jahren endlich vom ewigen Vergleich mit dem vermeintlichen „Feind“ verabschiedet, und dann kommt Mr. Scrum himself und fängt wieder damit an. Das kann er – wenn überhaupt – in einem traditionellen Umfeld tun, das die agile Welt gerade erst entdeckt, aber nicht auf den XP Days. Hier werden agile Themen auf Fortgeschrittenen-Niveau diskutiert. Normalerweise.
Grundkurs Agil
In diesem Jahr hatte ich den Eindruck, dass die grundlegenden Themen einen (zu?) breiten Raum einnahmen. Und als ich mich mit einigen Teilnehmern unterhielt, stellte ich fest, dass viele von ihnen tatsächlich noch keine oder kaum Berührungspunkte mit agilen Vorgehensweisen hatten. Für diese Klientel war die Veranstaltung ein voller Erfolg, und deshalb kann auch ich damit leben, dieses Jahr nicht allzu viel mitgenommen zu haben.
Keine Highlights?
Ein paar tolle Erlebnisse kann ich aber doch vermelden. So stellte Stefan Roock in zehn Minuten ein paar Praktiken vor, die neues Leben in ein Scrum-Projekt bringen. Henning Wolf und Jens Coldewey berichteten von ihren Erfahrungen bei dem Versuch, agile Praktiken in den Vertrieb bei it-agile einzuführen. Anschließend stellte Winald Kasch sehr eindrucksvoll dar, warum in seiner Firma (FORTIS IT-Services GmbH) in diesem Jahr eine neue Strategie eingeführt wurde, die auf Werten basiert, sich an der Kundennähe orientiert und den Mitarbeiter in den Mittelpunkt stellt. Klingt nach markigen Worten, aber da ich diesen Transformationsprozess als agiler Coach begleiten darf, kann ich guten Gewissens sagen, dass FORTIS auf einem guten Weg ist und die wesentlichen Elemente dieser Strategie bereits erfolgreich eingeführt hat.
Nach diesen managementlastigen Themen setzte ich mit meiner Fishbowl einen Kontrapunkt. Anstatt immer nur auf uns Agile und zu Agilisierende zu schauen, lenkte ich den Blick der Teilnehmer auf die nächste und übernächste Generation, sprich: die Studierenden und die Schüler. Meine These: wenn diese ins Arbeitsleben einsteigen, dann müssen sie von den Vorteilen agiler Vorgehensweisen nicht überzeugt werden. Ihnen geht es nicht um das „warum“, sondern höchstens noch um das „wie“. Die Ergebnisse der Fishbowl beschreibe ich demnächst in einem separaten Blogbeitrag.
Der Freitag begann für mich mit einer schönen Einführung in das Design Thinking. Dirk Lässig und Pierluigi Pugliese stellten diese Denkweise für Innovationsprozesse in der Theorie und anhand praktischer Übungen vor – gerade ausführlich genug, um Lust auf mehr zu machen.
Vor dem Mittagessen schlug dann die Stunde meines Kollegen Rolf Dräther: Sein Pecha Kucha „Aus dem Leben einer User Story“ war mit Liebe geschrieben, mit Wahrheiten gespickt und mit Hingabe vorgetragen – und nebenbei bemerkt der einzige Pecha Kucha, der wirklich funktionierte. All das brachte ihm stehende Ovationen, Tweets der Begeisterung, eine Runde Applaus (in Abwesenheit) am Community Day und den Wunsch nach einer Video-Version des Vortrags ein.
Aufschlussreiches Element einer jeden Konferenz sind die Erfahrungsberichte aus echten Projekten. Marcus Baumann, Wiebke Kappenberg und Kasyap Natarajan von der SAP AG haben ihre eigenen agilen Erfahrungen gemacht und berichteten ganz offen von der Herausforderung, User Stories mit den richtigen Leuten zu schreiben, die Kunden sinnvoll einzubinden und zur richtigen Zeit das Richtige zu testen.
„Nimm dir Zettel und Stift, denn dein Thema ist wichtig!“
Am meiste habe ich mich wie in jedem Jahr auf den Community Day gefreut – und wurde auch in diesem Jahr nicht enttäuscht. Hier passiert immer etwas Unerwartetes, denn genau das ist die Stärke des Open-Space-Formats.
Jens Coldewey entwickelte aus dem Attraktorenmodell die Rahmenbedingungen für Selbstorganisation in komplexen adaptiven Systemen:
- Container: ein wohldefinierter (oft gedanklicher) Raum, in dem sich die Akteure bewegen. Ohne Container gibt’s Chaos.
- Exchange: Der Austausch zwischen den Containern hält das System zusammen und macht es handlungsfähig.
- Differences: Die Diversität der Akteure hält das System am Leben.
Dieses CDE-Modell von Glenda Holladay Eoyang konnte ich dann gleich in meiner Open-Space-Session verwenden, in der ich an den oben erwähnten Vortrag von Winald Kasch anknüpfte und von unseren Erfahrungen bei der Implementierung der neuen agilen Strategie bei FORTIS berichtete.
Markus Wittwer brachte uns gewaltfreie Kommunikation bei. Nicht etwa, dass wir uns zuvor die Köpfe eingehauen hätten, aber sicher ist sicher. Im Ernst: das Quadrantenmodell des vorwurfsvollen/mitfühlenden inneren/äußeren Ohres hat wieder einmal zum Nachdenken darüber angeregt, wie wir miteinander kommunizieren, und offengelegt, warum wir uns oft nicht verstehen. Ich habe das Gefühl, dass man uns gar nicht oft genug daran erinnern kann, dass wir viel bewusster kommunizieren müssen.
In der Mittagspause stolperte ich aus purer Neugierde in eine Session, in der ein Rap über das Open-Space-Format geschrieben werden sollte. Jens Coldewey hatte die Idee, weil er das traditionellen Wandeln des Facilitators im Stuhlkreis während der Eröffnung nicht mehr sehen wollte. Nun saßen wir zu viert (Jens, Christian Dähn, Urs Reupke und ich) vor einem leeren Whiteboard. Keiner von uns hatte je zuvor einen Rap geschrieben. Schreibt man den überhaupt, oder schreit man ihn einfach wütend heraus? Wir wussten es nicht, konnten auch nicht aus unserer agilen Haut und kritzelten in bewährter Manier das Whiteboard voll. Mit der Zeit entstanden die ersten Zeilen. Es wurde um Worte gerungen und an Reimen gefeilt. Dann stand der Text. Wo aber war der Rhythmus? Also schmissen Christian und ich unsere MacBooks an, starteten GarageBand und komponierten los. Ein paar Anleihen bei Ice Cube, ein paar künstliche Instrumente und schon lag er da: ein dünner, aber durchaus tragfähiger Rhythmusteppich. Den trugen wir ins Abschlussrund, und nachdem unser Facilitator Martin Heider seine Schlussworte gesprochen hatte, legten wir los. Wir groovten im Kreis (eine Hommage an die Tradition), überschütteten die sprachlosen Agilen mit unseren Wortgespinsten und versuchten, im Rhythmus zu bleiben, was uns mal mehr, mal weniger gut gelang. Auf diese Weise erbten wir nach dem offiziellen Ende der XP Days eine Aufgabe für die Neuauflage im Jahr 2012 in Hamburg: die Eröffnung des Community Day mit einem Lied. Ob’s ein Rap wird, kann ich heute noch nicht sagen.
Trotz aller Kritik: mir hat es Spaß gemacht, denn es ist eine tolle Community, die sich auf den XP Days trifft. Mein Dank gilt den vielen Helferinnen und Helfern, die mit ihrer Energie zum Gelingen dieser Veranstaltung beigetragen haben. Danke – wir sehen uns 2012 in Hamburg!
3 Antworten auf „XP Days Germany 2011: Im Süden wenig Neues“
Danke für den schönen Bericht! Bin hin- und hergerissen, ob ich’s schade finden soll, nicht dabei gewesen sein zu können. Dem Community-Day trauere ich sehr hinterher. Und Euerm Rap natürlich 🙂
Moin Holger,
vielen Dank, schöne Zusammenfassung. Wäre gern dabeigewesen. Darf ich als Entrée für Hamburg im nächsten Jahr eine Art Rock-Oper wie „Tommy“ vorschlagen? 🙂
Vielen Dank für diesen Rückblick. Dieses Jahr war ich das erste Mal dabei und konnte von der Veranstaltung sehr profitieren. Zugleich kann ich mir vorstellen, dass für wiederkehrende Teilnehmer viele Themen von Jahr zu Jahr die gleichen sind. Ich bin gespannt, ob die XP Days 2012 in Hamburg mir wieder so viele neue Impulse geben werden. Und genauso gespannt bin ich auf Eure Eröffnung des Community Day in 2012 … 😉