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Wer braucht noch den ScrumMaster, wenn’s rund läuft?

Neulich durfte ich wieder einmal die Diskussion führen, ob sich ein ScrumMaster irgendwann überflüssig macht. Die Argumentation klang schlüssig: hat das Team die Prinzipien und Praktiken von Scrum verinnerlicht und weiß diese zu nutzen, dann muss niemand mehr über die Einhaltung der Spielregeln wachen. Das, so mein Gegenargument, ist aber zu kurz gedacht.

Das Aufgabengebiet eines ScrumMasters umfasst mehr als die Überwachung der Scrum-Regeln. Er ist Mentor, Coach, Schlichter, Tröster, Motivator, kurz: die gute Seele und das Gewissen des Teams. Auch wenn die Mechaniken von Scrum im Team funktionieren, gibt es für einen ScrumMaster noch genug zu tun. Es werden immer wieder Hindernisse auftauchen, die aus dem Weg geräumt werden müssen. Teammitglieder werden auf fachlicher und persönlicher Ebene Auseinandersetzungen führen, bei denen der ScrumMaster als Vermittler gefragt ist. Fluktuation im Team erfordert Unterstützung bei der Integration neuer Teammitglieder. Und wenn Scrum zur Routine wird und die Retrospektiven nur noch lustlos abgearbeitet werden, anstatt sie als Chance zur Verbesserung zu nutzen, dann tritt der ScrumMaster auf den Plan, um wieder frischen Wind ins Team zu bringen: durch neue Arbeitsweisen, agile Spiele oder eine gemeinsame Unternehmung. Sie sehen: dem ScrumMaster wird auch in einem routiniert arbeitenden Scrum-Team nicht langweilig.

Wenn meine Kollegen und ich neue Scrum-Teams unterstützen, dann stoßen wir oft auf die Erwartungshaltung, dass es ausreicht, ein Team durch die ersten zwei Sprints zu begleiten. Spätestens dann – so die Meinung unserer Auftraggeber –  sollte jedes Team die Scrum-Mechaniken verstanden haben. Das mag in vielen Fällen zutreffen. Aber gerade in der Phase, in der man zum ersten Mal meint, alles verstanden zu haben, besteht die Gefahr, wieder in alte Verhaltensmuster zu verfallen. Dazu ein Beispiel.

Straßenschild: Drive on left in Australia; Foto: Mat Connolley
Foto: Mat Connolley

Haben Sie schon einmal in einem Land mit Linksverkehr (bzw. Rechtsverkehr – je nachdem, wo Sie leben) hinter dem Steuer eines Fahrzeugs gesessen? Ich habe die Erfahrung gemacht, dass ich zu Beginn sehr gut mit der ungewohnten Situation klarkomme, weil ich mich stark auf meine Fahrweise konzentriere. Irgendwann komme ich dann an den Punkt, an dem ich mich sicher fühle und glaube, dass mir der Linksverkehr in Fleisch und Blut übergegangen ist. Meine Konzentration lässt nach, ich habe wieder Augen für die Landschaft um mich herum. Und dann passiert es: beim Abbiegen steuere ich plötzlich die rechte Fahrspur an. Offensichtlich arbeitet mein Unterbewusstsein immer noch im Rechtsverkehr-Modus.

Ähnlich geht es vielen frisch gebackenen Scrum-Teammitgliedern: die oft über viele Jahre praktizierten traditionellen Vorgehensmodelle der Softwareentwicklung sind tief im Unterbewusstsein der Teammitglieder verankert. Sobald den Scrum-Mechanismen nicht mehr viel Aufmerksamkeit geschenkt wird („Ich weiß ja jetzt, wie’s geht“), übernimmt das Unterbewusstsein die Kontrolle. Der ScrumMaster ist dann – um im Bild zu bleiben – der Autofahrer im Gegenverkehr, der mit seiner Lichthupe auf die Regelverletzung aufmerksam macht.

Deshalb: Augen auf im Straßenverkehr – und im agilen Projekt!